Forschungsförderpreis 2020
Wir freuen uns sehr, den Förderpreis 2020 an Professorin Judith Daniels überreichen zu können. Ihr Forschungsthema lautet:
„Verbleib im Bildungssystem - ein wichtiger Faktor, um den Kreislauf aus Traumatisierung und Armut zu durchbrechen.“
In Ihrem Forschungsvorhaben, das die Stiftung mit 6.000 Euro unterstützt, geht es um die Untersuchung an Mädchen mit traumatischen Kindheitserlebnissen. Ihre Forschung untersucht, ob und inwiefern ein Zusammenhang zwischen einer traumatischen Erfahrung in der Kindheit und Folgen für Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe besteht.
Weil gerade in einem Land mit einem geringen Bruttosozialprodukt die Bildungschancen und damit auch die Verdienstmöglichkeiten für Mädchen und Frauen schlechter sind als für Jungen und Männer, werden diese Untersuchungen in Bolivien durchgeführt.
Das Ziel des Projektes ist im ersten Schritt die Untersuchung traumatisierter Mädchen hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit sowie ihres Bildungs- und Einkommensverlaufs. In einem zweiten Schritt wird in Zusammenarbeit mit dem nationalen Bildungsministerium eine Fortbildung für ErzieherInnen und Lehrkräfte entwickelt.
Damit soll erarbeitet werden, wie der Verbleib von traumatisierten Mädchen im Bildungssystem auch mit geringen Ressourcen frühzeitig unterstützt werden kann.
Die Preisverleihung fand anlässlich der Jahrestagung der DeGPT in Berlin statt.
Abschlussbericht
1. Einleitung
Sowohl die Weltbank (2015; Link s.u.) als auch die Vereinigten Nationen (z.B. 2019, Link s.u.) haben in den letzten Jahren betont, wie sehr traumatische Erfahrungen in der Kindheit Frauen in wirtschaftliche Abhängigkeit und Armut führen. Vermutet wird dabei, dass traumatische Erfahrungen in der Kindheit dazu führen, dass Mädchen weniger Bildung erhalten, früher auf den informellen Arbeitsmarkt gelangen, und so langfristig nur geringe Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Teilhabe erlangen. Die genauen Faktoren, die den Zusammenhang von Traumatisierung und niedriger wirtschaftlicher Teilhabe vermitteln, sind jedoch z.Z. noch nicht gut untersucht und es stehen keine gezielten präventive Interventionen - insbesondere für Länder mit niedrigem Bruttosozialprodukt - zur Verfügung. Der Einfluss von traumatischen Erfahrungen in der Kindheit zeigt sich jedoch vornehmlich auf der mikro-sozialen Ebene, d.h. in der niedrigen Teilhabe an Schulbildung und beruflicher Bildung, der ungleichen Verteilung der Hausarbeit in Kindheit und Jugend, und des frühen Eintritts in den (teils informellen) Arbeitsmarkt. Im jungen Erwachsenenalter und meist besonders mit Eintritt in eine Paarbeziehung sind wichtige Faktoren ein eingeschränktes Mitspracherecht bezüglich der Verwendung des Haushaltseinkommens sowie der Verteilung der Haushalts- und Erziehungsarbeit. Auch hier zeigt sich, dass Frauen mit traumatischen Erfahrungen systematisch weniger Selbstbestimmung haben (Zapata et al., 2011). Dabei erweist sich, dass sowohl ein niedriges Bildungsniveau der Frauen als auch ein niedriges Haushaltseinkommen wiederum Risikofaktoren für weitere Gewalterfahrungen innerhalb der Paarbeziehung darstellen (Reviktimisierung). Dies ist sowohl für Ländern mit niedrigem (Bolivien: Instituto nacional de estadistica, 2017) als auch mit hohem (Egger und Schär Moser, 2008; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2014) Bruttosozialprodukt gut dokumentiert.
Die meisten Studien, die den Zusammenhang zwischen der psychischen Entwicklung von traumatisierten Mädchen und deren Bildungsverlauf untersucht haben, hatten nur ein querschnittliches (epidemiologisches) Studiendesign, d.h. konnten nur generelle Mittelwertsunterschiede oder Korrelationen dokumentieren. Wir haben deswegen im Jahr 2018 eine längsschnittliche Studie implementiert, welche die zugrundeliegenden Kausalzusammenhänge beschreiben sollte. Ziel war es, dazu im Frühling 2020 Nachbefragungen mit 600 Mädchen durchzuführen, welche im Herbst 2018 bereits an unserer Befragung teilnahmen.
2. Methodisches Vorgehen
In der ersten Erhebungswelle wurde eine repräsentative Stichprobe von 600 Mädchen im Alter von 16-18 Jahren für jeweils ca. 1 Stunde persönlich interviewt. Diese Befragung wurde in der Region Chiquitania durchgeführt, da hier (1) sowohl die Traumatisierungsraten besonders hoch sind als auch (2) die Weltbank ein stabiles wirtschaftliches Wachstum für diese unterentwickelte Region projizierte. Die Mädchen wurden durch geschulte bolivianische Interviewerinnen befragt, wobei die Interviews sowohl direkt elektronisch auf Tablets gecoded als auch aufgezeichnet wurden, sodass eine Qualitätssicherungsanalyse durchgeführt werden konnte. Alle befragten Mädchen gaben ihr Einverständnis an einer Nachbefragung teilzunehmen und stellten dazu diverse Kontaktdaten (inklusive Mobilfunknummern und Adressen) zur Verfügung.
In der ersten Erhebungswelle wurden sowohl das Vorliegen von Kindheitstraumata, PTBS Symptomschwere, Selbstwert, subjektive Lebensqualität, und Angst und Depression als Indikatoren der psychischen Gesundheit erfasst als auch der sozioökonomische Status der Familie, die bisherige Schulbildung des Mädchens, aktuelle Arbeitstätigkeiten, Überzeugungen hinsichtlich Geschlechterrollen und beruflichen Chancen für Frauen als Indikatoren der wirtschaftlichen Teilhabe.
Die bei der Elfriede-Dietrich-Stiftung beantragte Studie zur Nachbefragung sollte nun erneut bei jedem Mädchen erheben, in welcher Einkommenssituation es lebt und ob (und in welchem Ausmaß) es an der schulischen oder beruflichen Bildung teilnimmt. Zudem sollte erfasst werden, ob es seit der letzten Befragung erneute Reviktimisierungserfahrungen gemacht hat. Geplant war, im Mai 2020 eine Pilotierung dieser Nachbefragung durchzuführen um dann im Juni und Juli 2020 alle Teilnehmerinnen der ersten Befragung zu kontaktieren und telefonisch nachzubefragen.
3. Boliviens Reaktion auf die Pandemie
Wie die meisten unterentwickelten Länder hatte Bolivien aufgrund der ökonomischen Situation wenige Möglichkeiten die Pandemie einzudämmen. Als eine der wenigen durchgreifenden Maßnahmen wurden im Februar 2020 die Schulen im gesamten Land geschlossen und für ein komplettes Schuljahr geschlossen gehalten. Im August 2020 wurde beschlossen, alle Schüler in die folgende Klassenstufe zu versetzen und im Februar 2021 den Schulbetrieb wieder aufzunehmen. Aktuell sind kaum länderspezifische Daten zu den Auswirkungen dieser Schulschließungen verfügbar. Wie der Leiter des UNICEF Bildungsprograms sagte, ist aber davon auszugehen, dass der entstandene Bildungsrückstand kaum wieder aufzuholen sei (https://www.unicef.org/press-releases/covid19-scale-education-loss-nearly-insurmountable-warns-unicef).
In den meisten Regionen Boliviens wurde der Schulbetrieb im Februar 2021 in sehr reduzierter Form wieder aufgenommen, wobei aktuell keine Daten dazu vorliegen wie viele Kinder tatsächlich in den Schulbetrieb zurückkehrten.
4. Nachbefragung im Jahr 2021
Im Februar und März 2021, also mit einem Jahr Verzögerung, konnte die telefonische Nachbefragung pilotiert werden.
Von den ursprünglichen 600 Teilnehmerinnen konnten dennoch nur 199 nochmals befragt werden. Wir deuten dies als einen Hinweis darauf, wie sehr die Pandemie die Lebensläufe der Befragten beeinträchtigte. Die Tatsache, dass zwei Drittel der Stichprobe weder telefonisch noch anderweitig online kontaktierbar waren, könnte darauf hindeuten, dass keine finanziellen Ressourcen für Telekommunikation mehr zur Verfügung standen. Die meisten der Befragten hatten in der ersten Erhebungswelle Zugang zu Telekommunikation über ein pre-paid Mobiltelefon, welches durch das Aufladen von Guthaben aktiv gehalten wurde.
5. Ergebnisse und Ausblick
Auch wenn eine dezidierte Auswertung der Befragungen noch aussteht, lässt sich bereits heute anhand der Daten die tiefgreifenden Auswirkung der Pandemie auf die Mädchen ausmachen. Da wir einen großen Teil der Befragten nicht antreffen konnten ist eine Wiederholung der Nachbefragung für Frühling 2023 geplant. Dabei soll erneut versucht werden, alle ursprünglichen Teilnehmerinnen zu kontaktieren. Zu diesem Zeitpunkt wird sich auch klären, ob ein Teil der Frauen, die in 2021 nicht für eine Befragung kontaktiert werden konnten, wieder in die Studienstichprobe zurückkehren. In Abhängigkeit davon werden wir entscheiden, ob eine erneute Stichprobenziehung notwendig ist um mögliche Interventionen mit dem Bildungsministerium zu planen oder ob die bereits erhobenen Daten eine ausreichende Basis für diese Planung darstellen.
Literatur
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2014). Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen. Artikelnummer: 4BR41, Berlin, Juni 2014, 5. Auflage.
Egger, T., & Schär Moser, M. (2008). Gewalt in Paarbeziehungen: Ursachen und in der Schweiz getroffene Massnahmen. Bern: Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG; Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS AG. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-350296
Instituto nacional de estadistica. (2017). Encuesta de prevalencia y caracteristicas de la violencia contra las mujeres. Retrieved from www.ine.gob.bo
International Monetary Fund (2016). World Economic Outlook – Too slow for too long. http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2016/01/
International Monetary Fund (2019). Gender-based violence: Financial independence and economic empowerment key to survivors' recovery. https://www.unocha.org/story/gender-based-violence-financial-independence-and-economic-empowerment-key-survivors-recovery
Meekers, D., Pallin, S.C., & Hutchinson, P. (2013). Intimate partner violence and mental health in Bolivia. BMC Women's Health, 13:28. DOI: www.biomedcentral.com/1472-6874/13/28
Norris, P. and R. Inglehart (2003). Rising Tide: Gender Equality and Cultural Change Around the World. Cambridge, Cambridge University Press.
The World Bank (2015). Bolivia: Challenges and Constraints to Gender Equality and Women’s Empowerment. Washington, DC: World Bank. http://documents.worldbank.org/curated/en/339531468190181959/Bolivia-Challenges-and-constraints-to-gender-equality-and-women-s-empowerment
Zapata, D., Contreras, D. & Kruger, D. (2011). Child Labor and Schooling in Bolivia: Who’s Falling Behind? The Roles of Domestic Work, Gender, and Ethnicity. World Development, 39(4), 588-599.